Es hat eine Weile gedauert, bis ich diesen ersten Schritt aus der Ess-Störung als tatsächlich zu gehenden ersten Schritt erkannt habe. Allmählich spüre ich, was damit gemeint ist.

„Und der erste Schritt ist: Vereinbaren Sie bitte mit sich selbst, dass Sie das Essen nicht einfach verbieten werden.“
(Maria C. Sanchez in der Radiosendung „Durch dick und dünn“, Radio Bremen, Aufzeichnung vom 17.05.2014)

Seit Beginn der Pubertät bin ich essgestört.

Also seit über 30 Jahren. Meine erste Diät habe ich mit 11 begonnen, an meinen ersten Essanfall erinnere ich mich gut – mitten in dieser Diät verschlang ich eines Tages innerhalb kürzester Zeit und wie im Wahn ein ganzes Paket Toastbrot. Anschließend lief ich weinend zu meiner Mutter, die bei einer Nachbarin in der Küche saß. Sie tröstete mich, war jedoch ebenso hilflos wie ich. Danach wurde ich einfach nur immer dicker, denn ich aß und aß und aß und hörte zu, wie die Beschimpfungen ob meiner Disziplinlosigkeit wüster und verletzender wurden.

Und nun soll ich mir das Essen NICHT mehr verbieten?

Wo ich seit über 30 Jahren darauf gedrillt bin mich selbst deswegen zu verurteilen, weil ich so disziplin- und maßlos bin? Wie soll das gehen?

Nicht dass ich mir das Essen verbieten würde. Ich zähle zu den „Pegelessern“, ein Begriff, den ich in dem Buch „Sehnsucht und Hunger“ von Maria Sanchez fand und der meine Form der Essstörung beschreibt. Pegelesser sind quasi das Pedant zum Spiegeltrinker. Ich fange morgens an zu essen und höre abends mit dem Zähneputzen auf. Einen Zeitraum von mehreren Stunden zwischen zwei „Mahlzeiten“ – und damit ein körperliches Hungergefühl – gibt es nur selten, z.B. wenn ich unterwegs bin UND es mir gerade gut geht.

Seit einiger Zeit versuche ich immer mal wieder innezuhalten, bevor ich z.B. zur Schokolade (mein bevorzugtes Mittel gegen fast alle Widrigkeiten des Alltags) greife und mich zu fragen, was ich auf körperlicher Ebene spüre. Auch diese kleine Übung habe ich aus der Radiosendung mit Frau Sanchez. Und ich ertappe mich dabei, wie ich von mir erwarte zum einen, etwas „sinnvolles“ zu spüren und zum anderen, das ich es nun ja wohl schaffe, meinem Essdrang zu widerstehen.

Heute Morgen habe ich meinen Gedanken lauschen können beim „innehalten“. Irritiert stellte ich fest, dass ich „nichts“ in mir entdecken konnte und trotzdem Schokolade essen wollte.

„Du hast also gar keinen Grund zum Essen, dir ist bloß danach, also kannst du es auch lassen.“

Ich konnte nicht… Futterte, fühlte mich mies deswegen und versuchte dennoch, weiter nachzuspüren. Und dann begriff ich:

Diese Stimme in mir verbietet mir das Essen, ihre Worte sind barsch und lieblos, sie zweifeln an, dass ich überhaupt irgendeinen Grund für eine Essstörung habe, sie vermittelt mir das Gefühl, einfach nur disziplinlos, gierig und maßlos zu sein.

Und im Laufe dieser Erkenntnis verstand ich, warum diese Vereinbarung, mir nicht das Essen zu verbieten (auch nicht „indirekt“) so wichtig ist und ein Schritt aus der Ess-Störung, den ich noch gehen muss.

Er beginnt mit der zaghaften Frage, ob es möglich ist, dass ich tatsächlich noch immer „gute“ Gründe habe, den ganzen Tag zu essen bzw. ich schon längst damit aufgehört hätte, wenn ich es mit reiner Willenskraft könnte?

(Nähere Informationen zu der hier erwähnten Autorin finden Sie unter www.sehnsuchtundhunger.de )

Unsere Kolumnistin Bee lebt mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn in der Nähe von Bonn. In den letzten gut 20 Jahren hat sie einen weiten Weg zurückgelegt. Sie hat ihre Ess-Störung, eine exzessive Alkohol- und Drogenmissbrauchs-Zeit hinter sich gebracht, viele Therapien, teilweise stationär, gemacht und lebt heute erstaunlich gut mit Ihrer Diagnose: „Emotional instabile Persönlichkeitsstörung/Borderlinetypus“. Diese Persönlichkeitsstörung ist ein „Geschenk“ ihrer von physischer und psychischer Gewalt geprägten Kindheit und Jugend.

Mit ca. 12 Jahren entwickelte die Mitte 40jährige eine massive Ess-Störung, die sie bis heute in abgeschwächter Form begleitet. Diese Essstörung ist das letzte Überbleibsel, das sie an ihre Vergangenheit bindet und das sie bisher nicht ablegen konnte. Und genau darum geht es in ihren Texten: Um ihren weiteren Weg in ein selbstbestimmtes Leben. Darum, wie sie Schritt für Schritt lernt, Ihre Gefühle und unangenehmen Empfindungen nicht mehr mit Essen zu kompensieren.

Foto: manwalk_Manfred Walker_pixelio.de

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